Die Sprache mit den Materialien

Veronika Schöne, 2003

Heimlich. So heißt der Titel der Ausstellung. Das klingt ganz nach heimelig, anheimelnd. Nach Nestwärme, Schutzzone, nach einer Wohnung, einem Heim. Und tatsächlich hat Michael Dörner ein Haus gebaut, ein Spiegelkabinett seiner Kunst, das kein geringeres Thema hat als die Kunst selbst. In dem Maße, wie wir in das Innere des Hauses, in die subjektive Welt des Künstlers eintauchen, werden wir zum Zeugen seiner Frage nach dem, was Kunst sein kann. Ist es das, was wir sehen oder das, was wir erklären können? Oder anders gefragt: können wir überhaupt sehen, was wir erklären können und erklären, was wir sehen? Entsprechen Sprache und Sehen einander? Lassen sich die Dinge so einfach auf einen Begriff bringen? Oder ist das Kunstwerk nicht doch mehr als die Summe seiner Teile? Der Künstler fordert uns auf, die Schwelle zu übertreten und die Kunst nicht mehr nur von außen zu betrachten, sondern von innen zu erleben. Der Hausherr hat verschiedene Räume eingerichtet: Es gibt eine Art Wohnzimmer mit einem Fernseher und einem Aquarium, einem großen Tisch, einem schrankartigen Möbel, eine Art Schlafzimmer mit einer Hängematte zum Ausruhen, ein Art Esszimmer und schließlich eine Toilette. Kein Raum ist wirklich zuzuordnen, die Möbel sprechen weder die Sprache eindeutig wieder erkennbarer Funktionalität noch diejenige reiner, „zweckfreier“ Kunst. Das Haus, das von außen so normal wirkt, stiftet Verwirrung mit seinem Irrgarten semantischer Uneindeutigkeiten. Das anheimelnde „Heimliche“ wird heimlich noch in einem anderen Sinne: man bekommt das Gefühl, es versteckt sich etwas hinter dem äußeren Schein, etwas, was man nicht greifen kann, weil man es nicht zuordnen kann. Oder besser gesagt: es wird unheimlich, weil Michael Dörner die gewohnten Zusammenhänge von Erscheinungsform und tatsächlicher Funktion auflöst und damit den Besucher in ein Reich der Scheinwelten und Trugschlüsse entlässt, die sein kopfgesteuertes Verstehenwollen, sein Bestreben, alles in Begriffen erklärbar und damit auch beherrschbar zu machen, permanent frustrieren.

Dörner erreicht diesen intellektuellen Juckreiz, indem er Formen und Materialien gegeneinander verschiebt. Ihre jeweils angestammten Bedeutungen verweisen auf einen anderen Zusammenhang, wodurch sich eine Kontextverschiebung ergibt, die ihrerseits wiederum diese Bedeutungen in Frage stellt – ein mehrfach gebrochener De- und Umcodierungsprozess, der parallel sowohl auf formaler wie auf materieller Ebene stattfindet. Das Fruchtgummi beispielsweise verwendet Dörner in vielerlei Gestalt und unterschiedlichen Kontexten. Er formt daraus Kleider, Köpfe, tröpfelt es auf Tische und baut ganze futuristisch anmutende Stadtmodelle. Für letzteres hat Dörner Fruchtgummi in die verlorenen Formen von Keksverpackungen gegossen, die eigentlich keine gestaltgebende, sondern lediglich schützende Funktion haben. Indem Dörner also das Verhältnis von Verpackung und Gegenstand umkehrt und aus der Verpackung, der Um-Form, den primären Gegenstand, die Form, macht, erreicht er bereits eine erste Verschiebung und irritiert unsere Wahrnehmung: wir können die Form nicht zuordnen, weil sie nicht mehr auf ihre ursprüngliche (Verpackungs-) Funktion verweist. Diese solchermaßen ihrer Bedeutung entleerten, decodierten Elemente ordnet er achsial so an, dass sie in einem zweiten Schritt als Stadtmodelle lesbar werden, für den man jedoch eher Plastik als Werkstoff denn Fruchtgummi vermuten würde. Der Tisch hingegen verweist auf einen Essenskontext und ermöglicht damit auf einer dritten Ebene die Wiedererkennbarkeit der Elemente als Fruchtgummis – was nicht zuletzt auch an ihrer typischen Färbung und einem leisen süßlichen Geruch liegt.

Dörner destabilisiert die gewohnte Ordnung der Dinge nicht einfach nur, indem er sie verstreut oder durcheinander wirft – was die Unordnung nur mit der Unordnung illustrieren würde – sondern indem er die Ordnung mit der Ordnung durcheinander bringt, eine Regel mit einer anderen durchkreuzt, eine Sprache mit einer anderen aufbricht: die Sprache der Materialien mit der der Formen. Dörner lässt die Formen und Materialien auch nicht einfach aneinander vorbei sprechen, sondern miteinander, er setzt sie in ein Spannungsverhältnis zueinander, das auf Analogien beruht und über diese Analogien Assoziationsräume eröffnet, die jenseits fest gefügter Bedeutungsmuster und Zuordnungen von Formen und Materialien liegen. Diese Analogien werden weniger durch die tatsächlichen Materialitäten ermöglicht als vielmehr durch die Eigenschaften, wie insbesondere die Transluzenz, die Fruchtgummi, Glas, Wasser, Seeanemonen und Bernstein miteinander verbindet. Neben die durchschimmernde Seeanemone beispielsweise hat Dörner ins Aquarium ein sich an vegetabilen Formen orientierendes Glasgefäß gelegt und befragt über diese Analogie von Form und Materialeigenschaft die Definitionen und Begriffsbildungen – und damit letztlich die Konstitution von Bedeutung dieser beiden grundlegend verschiedenen, der Natur und der Kunst zugehörigen Gegenstände. Die Doppelscheiben des Schrankes hat er mit Fruchtgummi ausgegossen, das seinerseits Bernstein umschließt, der wiederum Insekten enthält. Dieser Schrank birgt so etwas wie das künstlerische Programm Michael Dörners: ein Setzkasten der Dinge, eine Art Wunderkammer der Kunst, der Natur und der Kultur, die er ineinander verschränkt und damit die bekannte Ordnung der Dinge gehörig durcheinander wirbelt. Die Transluzenz legt buchstäblich die unterschiedlichen Ebenen einer Archäologie der Begriffshierarchien offen, die sich von dem Haus als größtem Behältnis über Aquarium und Schrank bis in die Strukturen und Muster hinein fortsetzt, die das Haus als unentwirrbarer Teppich wie ein Horror Vacui überziehen. Sie ermöglicht den Blick auf eine andere Ordnung der Dinge, die zwar durchsichtig, jedoch mit unserem begrifflichen Instrumentarium nicht durchschaubar ist.

Hinter der Transluzenz tritt die tatsächliche Materialität zurück, das Licht entmaterialisiert die Materialien geradezu und wird damit zum konstitutiven Bestandteil der Werke, die nicht mehr nur von außen beleuchtet werden, sondern von innen erleuchtet – eine nahezu metaphorische Umsetzung der Erleuchtung, der „Illumination“, die man besser noch mit Ein-Leuchtung übersetzen kann. Ein-leuchtend wird die Welt jedoch nicht nur durch die Begriffe, in die wir sie zu fassen versuchen, sondern auch durch andere Weisen der Wahrnehmung. Die im Italienischen „illuminismo“ genannte Aufklärung als Inbegriff geistiger Weltdurchdringung und rationalen Verstehens findet in dem hohlen Kopf ihr Sinnbild, der umgekehrt in einem mit Fruchtgummi ausgegossenen Glasgefäß wie ein medizinisches Präparat gleichsam schwimmt und dem eine andere, unmittelbar sinnliche Form der Weltaneignung und des Be-Greifens gegenübersteht: das den Betrachtern zum Essen angebotene Fruchtgummi. Den Kopf als Gefäß der Gehirns, des Zentrums der Weltaneignung durch Begriffsbildung hat Dörner entleert und die besonders in der Aufklärung geradezu kanonisierten Wahrnehmungs- und Verstehenskategorien in seinem Haus gründlich durcheinander gebracht und in Frage gestellt. Er muss neu gefüllt werden.

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