Philippe van Cauteren, Direktor am S.M.A.K. Stedeljik Museum voor Actuele Kunst in Gent, Belgien, Hamburg, 3. Juni 2003

Lieber Bolisch,
es geschieht nicht jeden Tag, dass ich nach einer Ausstellungseröffnung mit einem süßen Geschmack im Mund nach Hause zurückkehre. Deine Ausstellung heimlich im art kite museum in Detmold ist so gesehen eine Ausnahme. Mehrere Male habe ich von den Fruchtgummi-Kleidern abgebissen, die von zwei Models bei der Eröffnung im Museum getragen wurden. Danach habe ich meinen Appetit an den mit Fruchtgummi gefüllten Tischen in Deinem Haus gestillt. Es hat mich überrascht, ein Haus – der Traum eines jeden Mannes – mitten in diesem Museum zu sehen. Das Museum wurde zu Deinem Garten und das Haus zu Deiner Galerie. Jetzt, da ich über Wohnen und Verdauen spreche – weißt Du eigentlich, dass es in Belgien das Sprichwort gibt: „Jeder Mann wird mit einem Ziegel im Magen geboren“? Der französische Philosoph Gaston Bachelard nannte das Haus in seinem Buch Die Poesie des Raumes unser erstes Universum, unseren Kosmos. Aber es ist nicht das erste Mal, dass Du „Deinen Kosmos“ auf eine Lebenssituation anwendest. In Deiner Ausstellung im Elbschloss in Hamburg (1997) hast Du Dich entschieden, alle privaten Räume dieses noblen Hauses zu nutzen. Du hast Nähe zwischen dem Besucher und den Objekten geschaffen und Distanz zwischen Öffentlichem und Privatem gänzlich abgelehnt.

Der Ausstellungskatalog bezeugt, dass für Dich Kunst prinzipiell das Angebot einer Dienstleistung bedeutet, vielleicht sogar eine Art Sozialarbeit. Das erinnert mich direkt an die Arbeiten des kubanischen Künstlers René Francisco. Er ist im Moment in Havanna damit beschäftigt, Häuser alter und verarmter Menschen zu renovieren. Indem der Künstler die Lebensbedingungen dieser bedürftigen Personen verbessert, hinterfragt René Francisco nicht nur Kunst, Avantgarde und ein ideologisch skrupelloses System, sondern hilft diesen Leuten ganz direkt. Wenn man aber im Gegensatz dazu über Deine Kunst als Sozial- Arbeit spricht, kann das auf einer gänzlich anderen Ebene bewertet werden. Du bietest mit der komplexen Dimension Deiner Arbeiten und dem mehrdeutigen Gebrauch von Materialien und Quellen eine kritische Darlegung über Kommunikation und Wahrnehmung.

Deine Dienstleistung begründet sich in der Bereitstellung von Situationen der Subversion für den Betrachter über Kunst im allgemeinen und Deiner Arbeit im besonderen. Die Objekte, Materialien, Installationen, Konstellationen scheinen nie das zu sein, was sie vorgeben zu sein. Wie ein Alchemist mischst und vermischst Du Inhaltstoffe und überschreitest Grenzen. Das Alltägliche findet sich in der Halluzination von Formen, Farben, Strukturen, Mustern und Bedeutungen. Und vice versa. Eine Ausstellung fixiert den Moment des Materials und der konzeptuellen Möglichkeiten. Doch ich muss Dir sagen, dass mich etwas in Zusammenhang mit Deinen Materialien verwundert. Viele Leute reduzieren oder fixieren Dich auf die lustig bunte Substanz mit dem Namen Gelatine. Vielleicht liegt es daran, dass die meisten von uns Süßigkeiten mit netten schönen Erinnerungen an unsere Kindheit verbinden. Ich jedoch verbinde etwas anderes mit Deinem Gebrauch dieser Materialien. Wenn man zum Beispiel an Gelatine, Murano- Glas und Bernstein denkt – und selbst die Anemonen aus dem Haus in Detmold beifügt –, kann dies in zwei Elementen charakterisiert werden. Zuerst einmal können sie als natürlich „gefundene“ Elemente beschrieben werden – Bernstein ist überdies sogar älter als die Zivilisation. Zweitens durchliefen sie alle den Prozess von einem flüssigen in einen festen Zustand, eine Art Petrifikation. Sie schließen ein, halten und fixieren. Sie sind Formen oder werden geformt. Auch wenn Du sie als Ready-made’ mit skulpturalen Eigenschaften wie Transparenz, Flexibilität, Weichheit etc. siehst, existiert die angedeutete Verbindung zwischen natürlichen und kulturellen Prozessen. Das Murano zum Beispiel, als ein barocker gefrorener Moment der Zeit, ist für mich in der Kombination mit dem menschlichen Schädel ein Abbild zeitgenössischer Vanitas. Ein Altar der Sterblichkeit. Die Blumen fehlen, aber nicht die Erinnerung an die Künstler der Stilleben des 17. Jahrhunderts wie zum Beispiel Willem Claesz.Heda. Und es ist keine Zufall, dass ich die Künstler dieser Ära erwähne. Künstler wie David Teniers, Jeroen Brouwers, Johannes Vermeer sind Meister der sogenannten Interieur-Gemälde. Das Individuum umgeben von delikaten Objekten in dem begrenzten Raum eines Zimmers oder einer Bar. Die Objekte als Codes für eine tägliche oder symbolische Reihenfolge.

Das Haus von heimlich ist voller Kunstwerke und Requisiten, zwischen denen der Besucher umherläuft. Die Transparenz der Materialien spiegelt nicht im mindesten die Transparenz ihrer Bedeutung. Die Material-konstellationen sind „trompe l’oeuil“ über Wirklichkeit und Kunst. Tapeten werden Malereien und Schädel wirkliche Skulpturen (oder Behältnisse für Gedanken). In manchen Momenten erinnern mich Deine künstlerischen Arbeiten an eine virtuelle Heirat zwischen Edward Kienholz und Robert Rauschenberg. Und hiermit werfe ich Dich weder kunsthistorische fünfzig Jahre zurück, noch limitiere ich Deine Aussagen. Ich beschreibe so Deine Auseinandersetzung mit Raum und Interieur, Dekoration und Funktionalität, Banalität und Intellekt, Gourmandise und Geschmack. Zwischen Sushi und Bratwurst mit Kartoffeln. Während Kienholz und Rauschenberg ihre Arbeit teilweise als direkte Antwort auf die vorherrschende malerische Tradition des abstrakten Expressionismus formulierten, ist Deine Arbeit die Antwort auf unsere eingefrorenen täglichen Gewohnheiten in unserem Leben und in unserer Wahrnehmung. Kunst sollte zum Beispiel nie aufgegessen werden. Aber in Detmold hat sie mir gut geschmeckt.

Herzlichst,
Philippi

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