Ludwig Seyfarth, 2004

Es ist nicht einfach, die vielfältige künstlerische Aktivität Michael Dörners auf einen Nenner zu bringen. Er malt, gestaltet Objekte aus unterschiedlichsten Materialien, richtet ganze Häuser ein oder bittet verschiedene Personen zu Tisch, um von ihm zubereitete Mahlzeiten einzunehmen, was letztlich heißt, Kunst zu essen.

Es gibt stets unterschiedliche Arten, Dörner Kunst zu betrachten oder mit ihr umzugehen. Auch einen griffigen, sofort wieder erkennbaren Dörner-Stil sucht man vergebens. Bestimmte einzelne Stilelemente oder Materialien als Markenzeichen auszumachen, wäre vorschnell. Gleichwohl gibt es Dinge, die wiederholt auftreten und einen gewissen Identifikationseffekt erzielen: etwa Tapetenmuster aus den sechziger Jahren, die Dörner in Gemälden oder Rauminstallationen zitiert, oder das ungewöhnliche Material Fruchtgummi, aus dem essbare oder nicht-essbare Objekte entstehen.

Das unmittelbar Sichtbare, vor Augen oder auf dem Gaumen Liegende ist bei Dörner jedoch stets nur der Anker oder Köder, um die Betrachter oder mit anderen Sinnen beteiligten Rezipienten in ein Spiel mit den Fallen der Wahrnehmung und der scheinbaren Identität der Dinge zu verwickeln. Dass die Dinge nicht sind, was sie zu sein scheinen, kommt besonders in Dörners Verwendung des Materials zum Ausdruck, die konträrer zum klassisch modernen Diktum des „form follows function“ nicht stehen könnte. Aus Sicht einer Auffassung von Materialgerechtigkeit mag sein Einsatz ungewohnter Kunst-Stoffe geradezu bizarr anmuten. Denn er täuscht bisweilen nicht nur das Auge bewusst darüber, um welches Material es sich handelt, sondern bezieht, wie schon gesagt, auch andere, in der Kunst gewöhnlich nicht direkt angesprochene Sinne wie den Geschmack ein. Wer an einer „Essensperformance“ Dörners teilnimmt, wird zunächst erhebliche Mühe, eine klare, helle Brühe als Tomatensuppe zu identifizieren oder in Fruchtgummi eingelassenes Fleisch nicht als Süßstoff zu empfinden. Weil wir das was wir sehen, und das was wir schmecken, was wir mit den Händen fühlen oder was wir hören, gewohnheitsmäßig in fest eincodierte, eingefleischte Beziehungen gebracht haben, stellen die sensuellen Erfahrungen, die Dörner uns vermittelt, unsere Erwartungen völlig auf den Kopf. Die Macht der Gewohnheit, gegen die „Sinnestäuschungen“ angehen, beherrscht aber auch unsere Wahrnehmung von Dingen generell. Wir schließen von dem, was wir sehen, auf das, was „ist“. Die Identität der Dingwelt ist in postmodernen Zeiten ähnlich dekonstruierend problematisiert worden wie die Identität der Person, des Ego. In der Kunst stehen dafür Namen wie Richard Artschwager oder Franz West, deren dreidimensionale Objekte in keine herkömmliche Kategorie passen: sind es Möbel, Skulpturen, oder nicht doch etwas völlig anderes? Auch Michael Dörners Objekte sind stets auf verschiedenen Ebenen erfahr- und interpretierbar. Ein Tisch, an dem man sitzen und essen kann, ist gleichzeitig eine Skulptur in einem raumfüllenden Ensemble anderer Gegenständen, die Stühle, Schränke, Teller oder Vasen sein können, aber nicht zwingend sein müssen. Hängt die Identität der Dinge nicht auch von der Weise ihres Gebrauchs ab?

Im Sommer 2003 stellte Dörner ein ganzes von ihm eingerichtetes Einfamilien-Fertighaus in eine Ausstellungshalle hinein (im Art Kite Museum in Detmold, Ostwestfalen). Einige Besucher „realisierten“ die dort installierte Toilette als Gebrauchsgegenstand und verkannten oder setzten sich provokant darüber hinweg, dass eine wirkliche Toilette auch über ein, hier nicht vorhandenes, System zur Entsorgung der Notdurft verfügt. Dass sie damit implizit auch Duchamps fast neunzig Jahre alte Tat konterkarierten, ein Urinoir auf dem Kaufhaus in einen Ausstellungskontext zu versetzen, dürfte den frechen Pinklern kaum bewusst gewesen sein. Die Identität der Dinge steht also schon länger in Frage. Zur gleichen Zeit, als Duchamp seine ersten Ready mades ausstellte, formuliert der russische Schriftsteller und Theoretiker Viktor Sklovskij ein künstlerisches Programm, auf das sich Dörners Einsatz gegen die Gewohnheit immer noch berufen könnte:

„Um für uns die Wahrnehmung des Lebens wiederherzustellen, die Dinge fühlbar, den Stein steinig zu machen, gibt es das, was wir Kunst nennen. Das Ziel der Kunst ist, uns ein Empfinden für das Ding zu geben, ein Empfinden, das Sehen und nicht nur Wiedererkennen ist. Dabei benutzt die Kunst zwei Kunstgriffe: die Verfremdung der Dinge und die Kompliziertheit der Form, um die Wahrnehmung zu erschweren und ihre Dauer zu verlängern. Denn in der Kunst ist der Wahrnehmungsprozess ein Ziel in sich und muss verlängert werden. Die Kunst ist ein Mittel, das Werden eines Dings zu erleben, das schon Gewordene ist für die Kunst unwichtig.“

Das Werden der Dinge erleben – auch das könnte sich Michael Dörner auf die Fahnen schreiben.

Gerade weil sie die ungewohnte Weise, in der sie entstehen, auf den ersten Blick verbergen, machen sie die Frage danach virulent. Wer denkt beim Betrachten einer Bronzeskulptur noch an die Hülle, die „verlorene“ Form, die sie umgab, als sie gegossen wurde? Die Trinkbecher, Süßigkeitenverpackungen, Seifenschalen, Mülleimerdeckel und anderen Behälter, deren Inneres zur Außenform der „Häuser“ wird, aus denen Dörner ganze kleine Fruchtgummi-„Städte“ errichtet, bleiben auf ganz andere im Bewusstsein. Schließlich folgt hier nicht die äußere Form dem Entwurf des Bildhauer, sondern die vorgefundenen Gefäße prägen den Objekten ihre äußere Gestalt auf, tätowieren sie mit Einbuchtungen und Rippen, ähnlich wie die Plastikformen, mit denen Kinder „Kuchen“ backen oder ganze kleine Städte im Sandkasten bauen.

Mit seinen Fruchtgummi-Bauten legt Dörner auch die Frage nahe, ob Architekturmodelle ihren kulturellen Ursprung vielleicht im Sandkastenspiel unserer entfernten Vorfahren, im Modellieren von Formen aus vergänglichem Material haben. Vor allem aber manifestiert sich in der Entstehung der – des Öfteren wie Parodien modernistischer Klötze oder postmoderner Stilverwirrungen wirkenden – architektonischen Fruchtobjekte eine bewusste Ambivalenz von Innen und Außen. Dass Innen/Außen auch privat/öffentlich, Kunstwelt/außerhalb der Kunst bedeutet, ist ein Leitfaden, der Michael Dörners Werk ebenso durchzieht wie das Trügerische des ersten sinnlichen Eindrucks. Dass die Erscheinungsform der Dinge nur das „Äußere“ ist, dass es aber auf das Innere ankommt, ist ein alter philosophischer Topos, den Oscar Wilde Ende des 19. Jahrhunderts frivol umkehrte: Nur oberflächliche Menschen gehen NICHT nach dem äußeren Erscheinungsbild. Vielleicht braucht es einen raffinierten Tiefsinn wie den Oscar Wildes, um Dörners komplexes Spiel mit der ästhetischen Oberfläche wirklich zu entwirren.

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