Über Material und Sprache in den neueren Arbeiten von Michael Dörner

Dr. Knut Nievers, 1998

In unsere Kunstbetrachtung hat sich die schlechte Angewohnheit eingenistet, zumindest mit dem zweiten Blick nach dem Titel des Kunstwerkes zu schauen, natürlich in der Erwartung, dort Aufschluß über die Bedeutung zu erhalten. In einer Ausstellung mit künstlerischen Arbeiten Michael Dörners hilft dieser Blick wenig. Alle Arbeiten sind mit einer Zahlenkombination „betitelt“, die das Werk an einen bestimmten Platz in der Entstehungsfolge eines bestimmten Jahres stellen. Der Titel bedeutet also nichts für die Interpretation, ist jedoch trotzdem insofern signifikant, als er das Werk in eine „nach oben“, d.h. zur Gegenwart hin offene numerische Skala einreiht, die zugleich eine zeitliche Abfolge anzeigt. Das einzelne Werk erscheint so als materielle Verdichtung eines historischen Kontextes, der den unendlichen Fluß des Zeitlaufs unterbricht, aber auch in ihm mitschwimmt. Insofern markiert jedes einzelne Werk zugleich das Ende und den Anfang einer Reihe.

Das Deutungsverlangen des Betrachters könnte zunächst bei den Materialangaben mehr Nahrung finden. „6.92“ besteht aus „Kunstleder, Glas, Kunststoff, Licht,…“, „5.96“ aus „Frottee, Fruchtgummi, Zahnbürste,…“, „6.93“ aus „Nudeln, Kunstleder, Moosgummi“. Wir halten uns ein bißchen auf bei „1.97“, also bei der ersten Arbeit des Jahres 1997, bestehend aus den Materialien Frottee und Fruchtgummi. In dieser, besonders für ein Kunstwerk, ungewöhnlichen Kombination „gewöhnlicher“, d.h. alltagsdefinierter Materialkombination („Während er aus der Duschkabine trat und nach dem flauschigen Frotteehandtuch griff, glitt seine rechte Hand in das stets in seinem Bad bereitstehende Plastikgefäß mit Gummibärchen…“), mag der Betrachter einen irritierenden, jedoch günstigen Ausgangspunkt für seine Bedeutungssuche erblicken. Was hat er vor Augen? „1.97“ ist eine Bodenarbeit von beträchtlichen Ausmaßen, die allerdings je nach den Bedingungen des Ausstellungsraumes variiert werden können. Auf einem niedrigen, T-förmigen und tischartigen Sockel aus Holz oder direkt auf dem Boden findet der Betrachter eine regelmäßige Anordnung von Fruchtgummigegenständen unterschiedlicher Form und Farbe, die auf Flächen von Frotteestoff gestellt sind, zwischen denen ein geometrisches Muster von „Straßen“ freibleibt. Aus der Vogelperspektive, in der sich das Werk dem Betrachter darbietet, meldet sich sehr schnell die Assoziation einer modellhaften Stadtlandschaft. Die Formen der Fruchtgummigegenstände verdanken sich zum größten Teil einfachen Gefäßen täglichen Gebrauchs, in die die noch flüssige Masse gefüllt und aus denen sie nach Erkalten und Erstarren wie Zitterpuddinge gestürzt worden ist.

Materialien, Formen, Farben und die Gesamtanordnung von „1.97“ rufen im Betrachter bestimmte, unterschiedliche Assoziationen hervor, die jedoch nicht alle in die gleiche Richtung laufen, so daß der Betrachter, der auf ein wohlgeordnetes Ensemble von Formen trifft („Architekturmodell“) vom Werk in der Weise angesprochen wird, daß er die in unterschiedliche Richtungen verlaufenden Assoziationen in Ordnung zu bringen versucht. Wenn er dabei nicht nur wild spekulierend verfahren und sich mit dem (Trug)Schluß zur Ruhe bringen will, es handle sich bei „1.97“ um die Tat eines durchgeknallten Architekten, geht er am besten vor wie ein generativer Grammatiker, der die Bedeutung eines Textes nicht als Summe einer Addition von in ihrer Bedeutung a priori festgelegter Elemente zu ziehen sucht, sondern sich, gleichsam wie ein Blinder, Gehörloser, Geruchs-, Geschmacks- und Tastloser, jedoch unter Anspannung aller Sinne und des ganzen Verstandes oder besser wie Einer, der geradeerst alle diese sinnlichen und analytischen Fähigkeiten erlernt, durch das Werk bewegt. Er muß also nicht nur phantasievoll assoziieren, sondern ebenso phantasievoll dissoziieren, also Bedeutungen an- und abkoppeln können, um sich immer wieder neuen Zusammenhängen zu öffnen. Und zum Schluß, der wieder ein Anfang wäre, müßte er dem Werk mit der nichtresignativen Gelassenheit gegenübertreten können, auf eine endgültige Eindeutung des Werkes verzichten zu müssen (zu dürfen).

Wir haben die Erfahrung – dazu braucht man sich bloß z.B. eines der niederländischen Früchtestilleben des 17. Jahrhunderts anzusehen-, daß Bilder nicht nur den Augensinn ansprechen. Sie können das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen, sie können Klänge und Gerüche entstehen lassen, haptische Stromstöße in die Fingerspitzen schicken, die Haut sich zusammenziehen lassen. Die künstlerischen Arbeiten von Michael Dörner sprechen den Betrachter nicht nur auf diese, also alle Sinne aktivierende Weise, an, sondern organisieren diesen Wahrnehmungsprozeß bewußt und in Zusammenarbeit mit dem Betrachter. Dabei rücken sie ihm zugleich auf die Pelle und holen ihn dort ab, wo er am meisten zuhause ist, nämlich zuhause. Sie arbeiten mit einem gesellschaftlichen Sachverhalt, der unser individuelles Lebens nachhaltig bestimmt, nämlich dem Umstand, daß die Grenzen zwischen den privaten und den öffentlichen Sphären sich immer mehr verwischen und schon nahezu verschwunden sind. „1.97“ könnte man auch als ein „Denkmal“ bezeichnen, das aus Küche, Bad und Wohnzimmer in die Öffentlichkeit eines Stadtplanungsmodells hineinragt und andererseits die Idee eines Stadtplanungsmodells auf Wohnlichkeit zurückführt (Der Architekt hat das Kochen nicht verlernt und versteht sich auch als Genußproduzent). Wenn man die künstlerischen Arbeiten von Michael Dörner als Modelle betrachten will, ist es wichtig, sie als kritische Modelle zu verstehen. Sie verbildlichen Verluste sinnlicher Qualitäten in der gesellschaftlichen Organisation unsrer Arbeits- und Lebenswelten. Insofern thematisieren sie auch ein aktuelles Problem ästhetischer Wahrnehmung und der Rezeption von Kunstwerken. Manchmal verwendet Michael Dörner für seine Wandarbeiten alte Tapeten, vor deren Grundmuster die Bilder und Objekte erscheinen, so z.B. bei “5.97” und “8.97”. Die Tapeten verklammern Dörners Bilder und Objekte nicht nur mit der Anmutung von Wohnlichkeit, sondern auch mit einem zeitlich-historischen Aspekt, nämlich dem der Verfallszeiten von Mustern und Moden.

Die Schwellenangst vor dem Eintritt in Kunstausstellungsräume könnte mitbedingt sein durch den Übergang von ästhetisch dürftigen in ästhetisch reiche und anspruchsvolle Räume. Die künstlerischen Arbeiten von Michael Dörner stellen sich der ästhetischen Verarmung nicht entgegen, sondern akzeptieren sie als eine Ausgangsbasis für Kunstproduktion und verknüpfen sie mit der Strategie einer Anreicherung. Der Auftritt einer Lasagne-Nudelplatte in einem Bildobjekt (z.B. „6.93“) ist sich zwar ihrer dadaistischen Verwandtschaft bewußt, agiert jedoch im Drama mit äußerster, auf Beobachtung basierender gestischer Genauigkeit und Ernsthaftigkeit, ohne in tragischem Lamento zu verkochen, also al dente wie Hamlet.

Fast hatten wir ja verlernt, nein, wir hatten es schon und tun es täglich von neuem, daß Kunstbetrachtung zugleich Spaß und Arbeit machen kann. Natürlich reißen uns Michael Dörners Werke da nicht aufeinmal heraus, sie müßten denn eine Revolution auslösen können (was sie tendenziell auch wollen, das macht sie so eminent politisch), doch bieten sie immerhin einen Weg an und zeigen ihn: „1.97“… „8.98“ … „5.00“ … „10.11“ …

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