Spitalplatz, Göppingen, 2005
Regenschirm 5-fach vergrößert, Stahl, Segeltuch, Regenanlage
1929 malt der surrealistische Maler René Magritte vielfach vergrößert eine Pfeife und darunter steht: Ceci n’est pas une pipe.1 In der Tat, es ist „nur“ das Bild einer Pfeife. Sie ist darauf nicht aus Holz, und man kann mit ihr nicht rauchen. Gleichwohl demonstriert der Künstler die wesentlichen Qualitäten eines Bildes. So verhält es sich mit dieser Skulptur eines Schirms von Michael Dörner. Eigentlich handelt es sich um ein Bild.
Die Form zeigt das klassische Modell, das der stilbewusste Mann sich über den Arm hängen würde als Geste und Beschwörungsformel: Der Regen kann kommen (wenn er nicht schon da ist), ich bin gewappnet. Der Alltagsgegenstand bekommt durch seine monumentale Größe eine besondere Wertigkeit, eine andere Dimension und Bedeutung als Bild im öffentlichen Raum, mitten auf einem Platz. ‚Platz-Regen’, ‚Regen-Schirm’ – assoziative Wortverbindungen verführen zu Mehrdeutigkeit, zu Widersprüchlichkeit, das Bild hält gegen die vertraute Gegenständlichkeit seine eigene Bedeutung und Bildwirklichkeit offen.
Erlebt man diese Schirmskulptur als modernen Baldachin, als Bild eines zweiten tragbaren und schützenden Himmels, dann kann es geschehen, dass man unverhofft auch darunter kräftig nass wird. So entpuppt sich dies Bild eines Schirms als Illusion, wird schöner Schein und zur Falle vermeintlicher Verlässlichkeit. Genau dann behauptet das Kunstwerk seinen Eigensinn. Einmal mehr trügt der Schein. Mit Humor erfasst man die Groteske, deren Heiterkeit wie den Ernst der Lage. Das Ungesicherte, die Freiheit des Widerspruchs, die Resistenz gegen alle praktische Vereinnahmung zeichnet das Kunstwerk aus. Das Bild ist ein zauberhaftes Gaukelspiel, das Schutz, Vernunft und Sinn beschwört und gleichzeitig außer Kraft setzt. Für den Betroffenen werden Erwartung und Überraschung, Lachen und Zorn unter Umständen ganz nahe beieinander liegen. Der Witz des Unverhofften im Bild hebt die Banalität und Biederkeit des wirklichen Regenschirms auf. Auf dem Schirm zitiert Michael Dörner eine berühmte Zeichnung2. Aby Warburg, einer der Begründer der modernen Kunstgeschichte, war 1896 bei den Pueblo-Indianern (New Mexico, Arizona in den USA). Mit dieser Zeichnung hat für ihn ein indianischer Schamane seine Vorstellung des Kosmos ins Bild gesetzt: Das Weltall ist vorstellbar im Bild eines Hauses, daneben eine irrationale Tiergröße als rätselhafter und gefürchteter Dämon, die Schlange. Dazu muss man wissen, dass die Pueblo-Indianer in Dörfern mit festen Häusern leben (Pueblo heißt in spanischer Sprache ‚Dorf’), in einer kargen, trockenen Landschaft. Regen hat eine besondere Bedeutung. Wenn er kommt, dann eher plötzlich, gewaltsam, mit Blitz und Donner. Das Dach des Welthauses hat einen treppenförmigen Giebel, ist eine durchschnittene Pyramide. Darunter spannt sich ein Regenbogen über das ganze Firmament, darunter sehen wir weiße und schwarze Regenwolken, darunter in feinen parallelen Strichen den Regen. Die Schlange mit ihrer Zickzack-Gestalt verknüpfen die Indianer in ihrem traditionell animistischen Glauben magisch-kausal mit dem Blitz. Über dem Haus sind solche abstrakten Blitze sichtbar, vergleichbar der Zunge der Schlange in Pfeilform. Ein solches Bild, zusammen mit Gebeten und Ritualen mit lebendigen Schlangen, dient den Indianern zur Beschwörung des Regens. Dazu gehört noch der Fetisch, das abstrakte Gottesbild, das auf einem Bogen über den Wolken im Welthaus schwebt. Man könnte das Bild in allen seinen Teilen als archetypische Kosmologie ausdeuten: das Treppendach als Auf und Ab des Lebens, die Schlange zugleich als Symbol der Zeit und ihres Rhythmus… Wesentlich ist: Das Beobachten und Deuten des Himmels ist erfüllt von Hoffen und Furcht. Wetter bedeutet Segen und Fluch für die Menschen. Das zeigen uns heute in anderer Form die in letzter Zeit immer häufigeren Berichte in den Medien von so genannten „Naturkatastrophen“: eine bunte Mischung von Satellitenbildern, Wetterkarten und Bildern zerstörter Zivilisation. Sie vermitteln auch, in welchem Maße wir bis heute dem ausgeliefert sind.
Im vermeintlichen Gegensatz zum animistischen Weltbild der Pueblo-Indianer haben wir aufgeklärte Europäer den täglichen Wetterbericht, verfasst von Meteorologen mit dem ganzen Instrumentarium hochmoderner Wissenschaft. Die Einladungskarte zur Vorstellung der Skulptur Michael Dörners zitiert eine mathematische Formel der Wahrscheinlichkeitsrechnung zur Berechnung der Abweichung zwischen der Vorhersage des Wetters und dessen realen Messungen. Der Wert benennt die Genauigkeit unserer wissenschaftlichen Beherrschung des Wetters. Anders gesagt: Es handelt sich um eine komplizierte, dem Laien unzugängliche Formel für den Moment, den Wert der Überraschung. Wer zu verstehen sucht, dem stellt sich die Frage: Was ist weniger oder mehr kryptisch, eher einsichtig oder geheimnisvoll, magisch: diese nur hoch spezialisierten Wissenschaftlern zugängliche mathematische Formel und die Bilder der täglichen Wettervorhersage im Fernsehen oder das indianische Bild, verbunden mit dem Schlangenritual des indianischen Dorfschamanen? Was haben sie gemeinsam? Beide sind suggestiv, rufen das Vertrauen der Menschen auf den Plan in so etwas wie Wissen. Und beide sind ebenso resistent gegen gesicherte Interpretation. Die Menschheit hat magische Formeln, Rituale, schlussendlich Bilder der Annäherung an etwas, was nach wie vor sein Geheimnis birgt. Niemand weiß genau, wann, wie, wo und wie viel es regnet, ob es Fluch oder Segen sein wird.
Der Regenschirm ist ein praktischer Gegenstand. Wie viel Beschwörungsformeln in den Gesten stecken, mit denen man mit ihm umgeht, wird man sich fragen. Welche Bedeutung haben Farben, sein Dekor, nicht zuletzt manches Label darauf… – das mag als modernes, heutiges Geheimnis und Frage bewusst werden. So kann man auch ihn als Bild betrachten, was mehr bedeutet als seine praktische Nützlichkeit. Der „Schirm“ von Michael Dörner, der keiner ist, sondern ein Bild, steht frei zur öffentlichen Erfahrung und Debatte. Sein monumentales Bild verhandelt das Thema ‚Regen’ – ‚Platz-Regen’. Es birgt Unerwartetes, fordert Imaginationsfähigkeiten und Mutmaßungen ein, ist etwas anderes als es den vordergründigen Anschein hat. Das Bild ist einprägsam, auf den Punkt gebracht, im Zentrum des Spitalplatzes in Göppingen, ein Angebot für jedermanns Aufmerksamkeit, humorvoll und gut für die eigene Überraschung oder zur Beobachtung der kleinen Katastrophe für den anderen und deren modern mythologische Deutung.
Werner Meyer
1 René Magritte: La trahison des images (Der Verrat der Bilder), 1929. Öl auf Leinwand, 60 x 81 cm. Los Angeles County Museum of Art.
2 Aby Warburg: Schlangenritual. Berlin 1995, S. 17 (Abb. 4): Cleo Jurino, Kosmologische Darstellung, Santa Fé 1896.
Der Regenschirm ist entstanden durch die Initiative des Kunstvereins Göppingen 8.Juli bis 31 Oktober 2005.